Mittwoch, 1. Mai 2019

Kurze Theorie des Raumes

Alte Fassung. Die neuere Fassung steht derzeit im Blog "Was ist Zeit?"

Während die oft als rätselhaft bezeichnete Zeit sich als das Maß der Dauer erschließt, ist der Begriff des Raumes schwieriger zu erhellen. In Anlehnung an die auf dem Zusammenwirken von Verstand und Außenwelt beruhende Theorie der Zeit entsteht auch eine Theorie des Raumes. Die drei geradlinigen Raumdimensionen bilden eine gedachte Struktur, mit deren Hilfe wir die Dinge räumlich einordnen. Auf diese Weise finden wir uns in der Außenwelt zurecht. Drei geradlinige Dimensionen, das ist die einfachste Form des Raumes, und mehr ist nicht notwendig, um jeden Raumpunkt eindeutig zu definieren. Durch den Fortschritt der Mathematik wurden gekrümmte Dimensionen möglich, die beispielsweise zu Beschreibung einer Kugeloberfläche zweckmäßiger als gerade Dimensionen sind.

Der Verstand greift mit den Sinnesorganen hinaus in die Außenwelt und verortet die Dinge in einem gedachten Koordinatensystem. Weil dies unbewusst geschieht und weil sich die realen Dinge tatsächlich in der Außenwelt befinden, haben wir von Natur aus schon immer die Vorstellung, dass der Raum in der Außenwelt ist. Auch Newton und Leibniz hatten diese Vorstellung, und die moderne Physik glaubt dies ebenfalls. Aber in Wirklichkeit ist der Raum eine angeborene Abstraktionsleistung des Verstandes. In der Außenwelt gibt es nur die Dinge.

Das Raumparadoxon:
Doch wenn wir sagen, dass es außerhalb des Verstandes keinen Raum gibt, scheinen wir ein Problem zu bekommen. Zu tief ist von Natur aus die Vorstellung in uns verwurzelt, dass sich der Raum in der Außenwelt befindet. Sofort sagt uns der Alltagsverstand, dass wir doch unbestritten in einem äußeren Raum leben, der durch Berge, Flüsse und Meere gegliedert ist. Was sonst als ein Raum wäre der Weltraum, der Sterne, Planeten und Staubwolken enthält? Der äußere Raum ist nach der uns angeborenen Denkweise der Raum schlechthin. Dem konnte sich auch Immanuel Kant nicht entziehen, dem wir die Einsicht verdanken, dass Raum und Zeit angeborene Kategorien des Denkens und Erkennens sind. Er bezeichnete den Raum als die äußere Form des Erkennens, im Gegensatz zur Zeit, die er als innere Form des Erkennens bezeichnet. Diese etwas künstlich erscheinende Unterscheidung ist erklärbar, weil wir von Natur aus glauben, der Raum befinde sich in der Außenwelt. Die Auflösung des Paradoxons: Der Raum existiert nur im Verstand. In der Außenwelt existieren nur die Dinge. Weil wir die Dinge in den Raum einordnen, haben wir den Eindruck, der Raum befinde sich, wie die Dinge, in der Außenwelt.

In der Wissenschaft ist die Unterscheidung von mathematischen Räumen und physikalischem Raum längst geläufig. Aber weder der wahre, mathematische Raum noch der äußere Raum existiert materiell. In der Außenwelt existieren die Dinge, der Raum dagegen ist eine abstrakte Struktur. Wem dieser Gedanke befremdlich erscheint, der möge sich vergegenwärtigen, dass die Vorstellung Isaac Newtons von einem Raum, der in der Außenwelt real existiert, schon vor über 100 Jahren aufgegeben wurde. Die theoretische Physik hat sich dafür entschieden, dass Raum und Zeit nur Relationen zwischen den Dingen sind. Demnach existieren nur die Dinge, dagegen sind nach dieser Meinung Raum und Zeit  nur Relationen zwischen den Dingen, nämlich  Größenverhältnisse, Abstände, Dauer von Veränderungen. Gegen den nächsten Schritt, wonach Raum und Zeit keine Eigenschaften der Materie, sondern ausschließlich Verstandeskategorien sind, sträubt sich die Wissenschaft mit Händen und Füßen. Wo es nichts zu beobachten, zu messen, zu experimentieren und zu berechnen gibt, sondern wo es ausschließlich auf die richtigen gedanklichen Grundlagen ankommt, wehrt sich die Naturwissenschaft gegen den Fortschritt und hält an dem fest, was man mathematisch und experimentell als erwiesen glaubt.

Der gedachte, mathematische Raum kennt seiner Natur nach nicht oben und unten, nicht Nord und Süd, und er kennt keinen festen Bezugspunkt für Bewegung. Daher ist Bewegung relativ. Nur durch Konvention wird oben, unten oder ein Bezugspunkt festgelegt. Als Bewohner der Erde sind wir uns seit jeher darin einig, dass unten da ist, wohin die Schwerkraft wirkt. Wir sind uns im Alltag außerdem darüber einig, Bewegung und Geschwindigkeit auf die Erdoberfläche zu beziehen. Bewegung (im Sinne von Ortsveränderung) und Geschwindigkeit hängen vom gewählten Bezugssystem ab und sind daher relativ. Ohne Bezugssystem ist der Begriff der Geschwindigkeit (im Sinne von Ortsveränderung) sinnlos.

Raum und Zeit sind nicht Teile oder Eigenschaften der materiellen Welt, sondern abstrakte Vorstellungen. Die abstrakte, mathematische Zeit ist nicht relativ, sondern ein festes Maß. Der Raum krümmt sich nicht, sondern die Dinge verändern ihre Position im Raum. Zwar lässt sich eine Raumzeit konstruieren, weil der mathematischen Phantasie keine Grenzen gesetzt sind. Tatsächlich aber bilden Raum und Zeit nicht physikalisch, sondern nur in unserem Erleben eine Einheit. Unser Verstand fügt unbewusst und ohne unser Zutun das räumliche Nebeneinander und das zeitliche Nacheinander der Dinge zu einem einheitlichen Erleben zusammen. Nichts anderes meinte der in Göttingen lehrende Philosoph Melchior Palagyi mit seinem Begriff der Raumzeit. Allerdings verwendete er dabei geometrische Vergleiche, die den Mathematiker Hermann Minkowski dazu anregten, die Raumzeit auf die Physik zu übertragen. Konsequent war dies nach damaligem Stand der Wissenschaft insofern, als auch in der Physik der Subjektivismus Einzug gehalten hatte.

Nicht mit dem Urknall sind Raum und Zeit entstanden, sondern mit der Fähigkeit des Verstandes, das Nebeneinander und das Nacheinander der Dinge zu beschreiben. Raum und Zeit sind angeborene Werkzeuge des Verstandes, mit denen wir uns in der Welt orientieren.

Subjektive und objektive Räume

Der Raum als Koordinatensystem des Individuums ist subjektiv. Allein schon Lageveränderung und Bewegung des Individuums führen zu einer anderen Anordnung der Dinge im Raum. Subjektiv erscheinen uns die Relationen der Dinge relativ. Ein Haus mag groß sein, doch aus der Ferne erscheint es klein wie ein Spielzeug. Aber der Verstand lässt sich durch die Perspektive nicht täuschen, sondern erkennt die wahren Größenverhältnisse. Der Mensch hat das Bedürfnis und die Fähigkeit, den Raum zu objektivieren. Der Raum wird objektiv, indem er an bestimmten Merkmalen der Außenwelt festgemacht wird. Solche Merkmale sind zunächst der Boden unter den Füßen, dann die Schwerkraft und der Lauf der Sonne von Ost nach West. Alle Menschen sind sich von Natur aus darin einig, dass unten da ist, wohin die Schwerkraft wirkt. Durch den Lauf der Sonne wird zugleich Norden und Süden festgelegt.

Die Vorstellung von einem objektiven, allen irdischen Wesen gemeinsamen Raum wird erschüttert durch die Erkenntnis, dass die Erde keine Scheibe ist, sondern eine Kugel, die sich um die Sonne dreht. Durch diese Erkenntnis ist oben und unten nicht mehr dieselbe Richtung in allen Erdteilen. Der Mensch erschaudert vor einer bodenlosen Welt ohne Oben und Unten, ohne Ost und West. Doch auch in dieser neuen Situation bemüht sich der Mensch um die Objektivierung des Raumes. Die Astronomie verwendet unterschiedliche Koordinatensysteme zur Orientierung. So dient die Ebene der Erdbahn um die Sonne als Orientierung. Für das galaktische System wird die Ebene der Milchstraße als Grundebene verwendet, wobei die Richtung zum Zentrum unserer Galaxie als Nullmeridian dient.

Die Objektivierung des Raumes durch Orientierung an Merkmalen der Außenwelt gibt uns Halt in einer bodenlosen Welt. Doch die Befestigung des Raumes an Dingen der Außenwelt befördert unser angeborenes Vorurteil, dass sich der Raum nicht im Verstand, sondern in der Außenwelt befindet.


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