Dienstag, 14. Mai 2024

Der Subjektivismus in der Physik

 Das einjährige Kind hat einen Gegenstand neben sich geworfen, so dass er außerhalb seines Gesichtskreises liegt. Naiv glaubt das Kind, der Gegenstand existiere nicht mehr. Ebenso naiv argumentiert der Sensualismus (eine positivistische Erkenntnistheorie des späten 19. Jahrhunderts), wenn er unsere Sinneseindrücke für die einzige Erkenntnisquelle hält. Der Physiker und Erkenntnistheoretiker Ernst Mach (1838 - 1916) prägte den Leitsatz: "Die Beobachtung ist unsere einzige Wirklichkeit". Wie Karl Popper Jahrzehnte später zutreffend sagte, hat der Einbruch des Subjektivismus in die Physik schon vor Einstein begonnen. Ernst Mach war für den jungen Albert Einstein dessen philosophisches Vorbild. Mach forderte die Abschaffung der absoluten Zeit in der Physik, weil sie eine metaphysische Idee sei. Das Ergebnis war Einsteins Relativitätstheorie von 1905. Danach sind Zeit und Gleichzeitigkeit relativ, weil unterschiedlich bewegte Beobachter von einer Uhr unterschiedliche Zeiten ablesen. Ursache dafür sind unterschiedliche Lichtlaufzeiten, wie Einstein in seinem Text ausführlich beschreibt. Er definiert Zeit und Gleichzeitigkeit aus subjektiver Sicht der Beobachter, sodass jeder Beobachter seine eigene Zeit hat.  

Zwanzig Jahre später hatte Einstein den Sensualismus hinter sich gelassen und dachte realistischer. Er wusste nun, dass der Mond auch dann scheint, wenn wir ihn nicht beobachten. Aus diesem Grund gab es für ihn nur zwei Möglichkeiten in dem  berühmt gewordenen Gedankenexperiment von Ernst Schrödinger: Die Katze ist entweder tot oder lebendig. Doch die jungen Quantentheoretiker um Werner Heisenberg und Niels Bohr entschieden sich für eine subjektivistische Wirklichkeit. Solange wir nicht in die Kiste hineinsehen können, ist die Katze nicht tot und nicht lebendig, sondern in einem Zwischenzustand. 

Einstein: "Aber Sie glauben doch nicht im Ernst, dass man in eine physikalische Theorie nur beobachtbare Größen aufnehmen kann."

 Heisenberg: "Ich dachte, dass gerade Sie diesen Gedanken zur Grundlage Ihrer Relativitätstheorie gemacht hätten? Sie hatten doch betont, dass man nicht von absoluter Zeit reden dürfe, da man diese absolute Zeit nicht beobachten kann. ..."

 Einstein: "Vielleicht habe ich diese Art von Philosophie benützt, aber sie ist trotzdem Unsinn. ..." 

(Aus den Aufzeichnungen von Werner Heisenberg, wonach das Gespräch jedoch weitaus ausführlicher und komplizierter verlief als hier beschrieben)

Letztlich ging es um die philosophische Frage, ob unser Wissen mehr umfasst als die bloßen Beobachtungen. In der Debatte mit den Quantentheoretikern ging es aber auch darum, ob in der physikalischen Welt alles kausal determiniert ist oder durch statistische Wahrscheinlichkeiten bestimmt wird. (Einstein: "Gott würfelt nicht.") Darüber zerstritt sich Einstein heillos mit den Quantentheoretikern, und er wurde von der weiteren Entwicklung  der Physik abgehängt. Ironie der Wissenschaftsgeschichte: Einstein selbst hatte mit seiner Relativitätstheorie wesentlich dazu beigetragen, die subjektivistische Betrachtungsweise in der Physik einzuführen.   

 

    

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