Sonntag, 11. Juli 2021

Ein Paradigmenwechsel ist notwendig

 Für Isaac Newton waren der absolute Raum und die absolute Zeit real existierende Dinge. Sein Zeitgenosse und Kontrahent Gottfried Wilhelm Leibniz dagegen fasste Raum und Zeit als Relationen zwischen den Dingen auf. Etwa hundert Jahre später verwarf Immanuel Kant sowohl Newtons  Substantialismus wie auch den Relationismus von Leibniz. Nach Kant sind Raum und Zeit angeborene Formen unseres Denkens und Erkennens, sogenannte a priori gegebene Kategorien. Aus nachvollziehbaren Gründen, die hier nicht näher ausgeführt werden sollen, setzte sich in der Physik gegen Ende des 19. Jahrhunderts unter dem Einfluss positivistischer Denker wie Ernst Mach die relationistische Auffassung von Raum und Zeit durch. Der junge Albert Einstein setzte mit seiner Relativitätstheorie von 1905 die Forderung von Ernst Mach nach Abschaffung der absoluten Zeit um. 

Doch wenn Raum und Zeit per Definition in Relationen zwischen den Dingen bestehen, dann verändern sich Raum und Zeit ständig, weil sich die Dinge bewegen. Wenn überdies die Zeit vom Gang der Uhren abhängig gemacht wird, dann wird die Sache noch komplizierter. Bis heute rätselt die Physik über die Wechselwirkungen zwischen Raum und Zeit einerseits und der Materie andererseits. Raum und Zeit gelten als die großen Rätsel der Physik. Übrigens gibt es ein gewichtiges Argument gegen den Relationismus. Die Aussage, dass Raum und Zeit in den räumlichen und zeitlichen Relationen zwischen den Dingen bestehen, setzt Raum und Zeit bereits voraus. Insofern sagt der Relationismus nichts über das Wesen von Raum und Zeit, oder wie man heute sagt: über den ontologischen Status von Raum und Zeit. 

Wie muss der Paradigmenwechsel aussehen, der die Rätsel auflöst? Ausgangspunkt ist die Auffassung von Immanuel Kant,  wonach Raum und Zeit angeborene Formen von Denken und Erkennen sind. Dies allein wird noch kaum einen Physiker überzeugen. Denn nach wie vor gilt, dass die Physik nicht viel mit apriorischen Verstandeskategorien anfangen kann, solange diese keinen erkennbaren Bezug zur physikalischen Wirklichkeit haben. Doch seit der Mitte des 20. Jahrhunderts gibt es die auf den Verhaltensbiologen Konrad Lorenz zurückgehende Grundüberlegung der evolutionären Erkenntnistheorie, wonach die Entwicklung unseres Verstandes und damit Grundformen unsers Denkens durch die Umwelt geprägt sind. Betrachtet man Immanuel Kants apriorische Denkkategorien unter diesem Gesichtspunkt, so ergibt sich eine logische Folgerung: Raum und Zeit sind angeborene Ordnungssysteme, mit denen die Evolution unseren Verstand ausgestattet hat, sodass wir uns besser in der realen Welt orientieren können.  Der dreidimensionale Raum ist eine Projektion, die unser Verstand auf die Außenwelt wirft. In diesem abstrakten Raum verorten wir die Dinge und messen ihre Relationen. Die Zeit ist die Ordnung des Nacheinander, indem wir vorher, jetzt und nachher unterscheiden. Zeit ist außerdem das Maß der Dauer, d.h. das Maß für die Abstände in der Aufeinanderfolge von Ereignissen, die als Zeitrelationen bezeichnet werden. Als Messwerkzeug dafür benötigen wir Uhren, die nur tauglich sind, wenn sie gleichmäßig gehen. 

Die Folgen des Paradigmenwechsels: Der Raum verändert sich nicht infolge der Bewegung der Dinge, sondern an den Raumdimensionen Länge, Breite und Höhe erkennen und messen wir die Dinge und ihre Relationen. Die Zeit verändert sich nicht infolge der Bewegung der Dinge, sondern ist ein Maß für Zeitrelationen, was bisher schon in der Definition der Sekunde als Maßeinheit zum Ausdruck kommt. Nach dem Paradigmenwechsel sind Raum und Zeit das, was sie faktisch schon immer waren, nämlich Ordnungs- und Maßsysteme, nicht mehr und nicht weniger. Als solche bieten sie keinen Anlass für phantasievolle und mathematisch hochkomplizierte Spekulationen. 

(Die damit zusammenhängenden Fragen werden in meiner Theorie der Zeit und meiner Theorie des Raumes behandelt, siehe  zeitrelationen.blogspot.com )